Nach Auffassung des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof Giovanni Pitruzzella sind Unternehmen verpflichtet, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen. Die Mitgliedstaaten müssten eine entsprechende Regelung schaffen, seien dabei aber frei zu bestimmen, wie sie die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung umsetzen, um einen wirksamen Schutz der Arbeitnehmer zu erreichen (Schlussanträge vom 31.01.2019, Az.: C-55/18).

Streit um Verpflichtung von Unternehmen zu Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems

Die spanische Gewerkschaft Federación de Comisiones Obreras (CCOO), unterstützt von vier weiteren Gewerkschaftsorganisationen, hat vor dem Nationalen Gerichtshof Spaniens (Audiencia  Nacional) gegen die Deutsche Bank SAE eine Verbandsklage eingereicht, mit der sie die Feststellung begehrt, dass die Deutsche Bank verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von den Arbeitnehmern geleisteten täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen. Nach Ansicht der Gewerkschaft CCOO sollte dieses System die Überprüfung der Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeit und der Verpflichtung gestatten, den Gewerkschaftsvertretern die Informationen über die monatlich geleisteten Überstunden gemäß den nationalen Rechtsvorschriften zu übermitteln. Nach Ansicht der Gewerkschaften ergibt sich die Verpflichtung zur Schaffung dieses Systems nicht nur aus den nationalen Rechtsvorschriften, sondern auch aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und aus der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Die Deutsche Bank bringt hingegen vor, dass sich aus der Rechtsprechung des Obersten spanischen Gerichtshofs (Tribunal Supremo) ergebe, dass das spanische Recht keine solche allgemeine Verpflichtung vorsehe.

Oberster spanischer Gerichtshof verneinte Verpflichtung 

Der Oberste Gerichtshof hatte in einem Urteil vom 23.03.2017 eine allgemeine Verpflichtung, die Regelarbeitszeit aufzuzeichnen, ausgeschlossen und festgestellt, dass das spanische Recht nur zur Führung einer Liste der geleisteten Überstunden und zur Mitteilung der Zahl der gegebenenfalls von den Arbeitnehmern geleisteten Stunden am Ende jedes Monats an ihre Gewerkschaftsvertreter verpflichtet sei. Er wies insbesondere darauf hin, dass die Führung einer Liste über die normale Arbeitszeit die Gefahr mit sich bringe, dass das Unternehmen ungerechtfertigt in das Privatleben des Arbeitnehmers eingreife. Der spanische Gesetzgeber habe, wenn er eine solche Liste habe vorschreiben wollen, dies speziell getan, wie für Teilzeitbeschäftigte, mobile Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine und Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor.

Nationaler Gerichtshof: Verpflichtungsausschluss mit Unionsrecht vereinbar?

Der Nationale Gerichtshof äußerte Zweifel an der Vereinbarkeit der spanischen Rechtsvorschriften in der Auslegung durch den Obersten Gerichtshof mit dem Unionsrecht. Nach den ihm mitgeteilten Informationen würden in Spanien 53,7% der Überstunden nicht aufgezeichnet. Ferner meine das spanische Ministerium für Beschäftigung und Soziale Sicherheit, dass die Zahl der in der Regelarbeitszeit geleisteten Stunden genau bekannt sein müsse, damit festgestellt werden könne, ob Überstunden geleistet worden seien. Die Auslegung durch den Obersten Gerichtshof habe in der Praxis sogar zur Folge, dass den Arbeitnehmern ein Beweismittel genommen werde, das für den Nachweis einer über die Regelarbeitszeit hinausgehenden Leistung wesentlich sei, und ihre Vertreter nicht über ein für die Prüfung der Einhaltung der Vorschriften erforderliches Mittel verfügten. Nach Ansicht des Nationalen Gerichtshofs kann in dieser Situation das nationale Recht die Einhaltung der in der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und in der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG vorgesehenen Verpflichtungen nicht gewährleisten.

EuGH-Generalanwalt: Unternehmen müssen Arbeitszeiterfassungssystem einführen

Nach Ansicht des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella folgt für die Unternehmen aus der EU-Grundrechtecharta und der Arbeitszeitrichtlinie die Verpflichtung, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen, die sich nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv zur Ableistung von Überstunden verpflichtet hätten und die keine mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine oder Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor seien. Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine solche Verpflichtung nicht vorsähen, seien unionsrechtswidrig. Allerdings stehe es den Mitgliedstaaten frei, die für die Erreichung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts geeignetste Form der Erhebung der effektiven täglichen Arbeitszeit vorzusehen.

Schutz der Arbeitnehmerrechte erfordert Verpflichtung zu Arbeitszeiterfassung

Laut Pitruzzella muss gewährleistet werden, dass die den Arbeitnehmern durch die Charta und die Arbeitszeitrichtlinie verliehenen Rechte auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten umfassend und tatsächlich in Anspruch genommen werden können. Ein umfassender und wirksamer Schutz setze die Bestimmung spezifischer Verpflichtungen der beteiligten Personen voraus, damit vermieden werde, dass der Unterschied in der wirtschaftlichen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der die schwächere Partei des Arbeitsvertrags sei, die tatsächliche Inanspruchnahme der von der Charta und der Richtlinie zuerkannten Rechte beeinträchtige.

Mitgliedstaaten müssen geeignete gesetzliche Regelung schaffen

Die Mitgliedstaaten könnten zwar die Mittel und Wege frei wählen, mit denen sie die Arbeitszeitrichtlinie umsetzten. Doch werde ihnen jedenfalls eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der in der Arbeitszeitrichtlinie aufgestellten Regeln durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt sei, so der Generalanwalt weiter. Sie hätten eine nationale Regelung zu erlassen, die geeignet sei, das Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer (deren Schutz zu den grundlegenden Zielen der Richtlinie gehöre) mittels der effektiven Einhaltung der Grenzen der Arbeitszeiten zu erreichen und jedes Hindernis zu beseitigen, das die Inanspruchnahme der von der Richtlinie zuerkannten subjektiven Rechte tatsächlich beeinträchtige oder beschränke. Diesen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie entspreche eine besondere Verantwortung des Arbeitgebers, der seinerseits die Verpflichtung habe, angemessene Maßnahmen zu treffen, um den Arbeitnehmern die Ausübung ihrer von der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten Rechte ohne Hindernisse zu ermöglichen.

Einhaltung der Arbeitszeitregeln ohne Arbeitszeiterfassung nicht gewährleistet

Der Generalanwalt hebt hervor, dass es im Fall des Fehlens eines Systems zur Messung der Arbeitszeiten keine Garantie gebe, dass die von der Arbeitszeitrichtlinie festgelegten zeitlichen Beschränkungen tatsächlich beachtet würden, und daher auch nicht dafür, dass die Rechte, die die Richtlinie den Arbeitnehmern gewähre, ohne Hindernisse ausgeübt werden könnten. Ohne ein solches System könnten weder das Ausmaß tatsächlich geleisteter Arbeit und die Lage der Arbeitszeiten objektiv und sicher festgestellt, noch zwischen Regelarbeitszeit und Überstunden unterschieden werden. Auch die für die Kontrolle der Einhaltung des Systems für die Sicherheit am Arbeitsplatz zuständige Behörde habe keine konkrete Möglichkeit, eine etwaige Nichterfüllung der Verpflichtungen festzustellen und zu beanstanden.

Rechtsdurchsetzung für Arbeitnehmer ohne Arbeitszeiterfassung erheblich erschwert

Außerdem betont Pitruzzella, dass das Fehlen dieses Systems es für den Arbeitnehmer viel schwieriger mache, die Rechte, die ihm die Arbeitszeitrichtlinie gewähre, in einem Gerichtsverfahren zu wahren, da ihm dadurch eine erste wesentliche Nachweismöglichkeit genommen werde. Denn ohne ein solches System wäre es , wenn der Arbeitgeber Arbeitsleistungen unter Verstoß gegen die von dieser Richtlinie vorgesehenen Beschränkungen der Arbeitszeit vorschriebe, sehr schwierig, eine wirksame Abhilfe gegen diese rechtswidrigen Verhaltensweisen zu schaffen. Folglich werde durch dieses Fehlen die Wirksamkeit der Rechte, die die Arbeitszeitrichtlinie den Arbeitnehmern gewähre, erheblich geschwächt, die im Wesentlichen dem Ermessen des Arbeitgebers überlassen würden.

Verpflichtende Arbeitszeiterfassung für Einhaltung der Arbeitszeitvorgaben wesentlich

Der Generalanwalt unterstreicht zusammenfassend, dass die Verpflichtung zur Messung der täglichen Arbeitszeit eine wesentliche Funktion im Hinblick auf die Einhaltung aller anderen Verpflichtungen nach der Arbeitszeitrichtlinie erfülle, wie die Grenzen der täglichen Arbeitszeit, die tägliche Ruhezeit, die Grenzen der wöchentlichen Arbeitszeit, die wöchentliche Ruhezeit und die etwaige Leistung von Überstunden. Diese Verpflichtungen seien nicht nur mit dem Recht des Arbeitnehmers und seiner Vertreter, in regelmäßigen Abständen das Ausmaß geleisteter Arbeit für die Zwecke der Vergütung überprüfen zu können, sondern insbesondere mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verbunden.

Spanische Vorschriften bei nicht möglicher unionsrechtskonformer Auslegung unangewendet zu lassen

Nach Ansicht Pitruzzellas muss das spanische Gericht nun prüfen, ob es ihm unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der von diesem anerkannten Auslegungsmethoden möglich sei, dieses Recht so auszulegen, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sichergestellt wird. Sollte dies unmöglich sein, müsse das nationale Gericht die spanischen Rechtsvorschriften unangewendet lassen und sich vergewissern, dass die Verpflichtung des Unternehmens, sich mit einem zur Messung der effektiven Arbeitszeit geeigneten System auszustatten, eingehalten wird. Diese Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung schließe die Verpflichtung der nationalen Gerichte ein, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruhe, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar sei.